Teil meiner Arbeit ist es ja, Gemeinden – liebevoll – einen Spiegel vorzuhalten und ein konstruktives Feedback zu geben. Meistens erkenne ich ein enormes Engagement der Gemeindeleitung und Mitarbeiter. Immer wieder stelle ich aber auch fest, dass sich eine gewisse Betriebsblindheit einschleicht. Vor einigen Wochen waren meine Tochter und ich in Mittel- und Süddeutschland unterwegs, um mehrere Gemeinden aus unterschiedlichen Denominationen zu besuchen. Eine überaus interessante Erfahrung, bei der ich mir Parallelen zur Tour de France nicht verkneifen kann.

Die Begleitung meiner neunzehnjährigen Tochter war für mich nicht nur wertvoll, weil ich mich als Beifahrer neben ihr entspannen konnte. Sondern auch, weil sie einen klaren Blick hatte für das, was wir in den Gemeinden vorfanden: Für das, was schon exzellent war und das, was sein könnte. Nach jeder Etappe tauschten wir uns aus. Ich wollte wissen, wie sie die jeweilige Gemeindesituation empfand.

1. Etappe: Gemeinde vermietet Studentenbuden – Chance und Herausforderung zugleich

Eine Universitätsstadt in Hessen: Die besuchte Gemeinde mit charismatisch-pfingstkirchlichem Hintergrund war viele Jahre langsam, aber stetig gewachsen. Eine ihrer Besonderheiten: Sie besitzt ein mehrgeschossiges Gebäude, das als günstiger Wohnraum für Studenten zu kleinen Apartments umgebaut wurde. Welch eine Chance, von Jesus zu erzählen, dachten wir uns, denn durch die hohe Fluktuation kommen immer wieder neue Leute.

Die Gemeinde bietet den Studenten bereits christliche Schnuppermöglichkeiten an. Doch die Herausforderung ist groß und benötigt einiges an Ressourcen. Uns wurde klar: Es reicht nicht aus, ein solches Wohngebäude nur zu managen. Die Vision, die dahinter steht, ist viel wichtiger: Die Menschen darin zu lieben und ihnen Gutes zu tun. Für einen solchen Auftrag sollten immer wieder Mitarbeiter freigesetzt werden, die mit kreativen Ideen Gastfreundschaft und Beziehungen zu den Studenten pflegen. Im Radsport gibt es übrigens die ‚Edelhelfer‘: Fahrer, die sich zuallererst in andere Menschen investieren.

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2. Etappe: Fortschritt und Entwicklung sind keine Selbstläufer

Eine Kleinstadt in Hessen: Wenn eine Gemeinde ein halbes Jahrhundert, beziehungsweise ihr Gebäude 30 Jahre auf dem Buckel hat, dann hat sie eine eigene Tradition und Kultur entwickelt. In diesem Fall empfanden wir, dass die Zeit ein bisschen zu sehr stehen geblieben war. Zumindest was die Räumlichkeiten anging. Meine Tochter brachte es auf den Punkt: Fortschritt passiert nicht von selbst.

Wenn eine Gemeinde über Jahre an alten Zöpfen festhält, führt das zu Passivität bei den einen und Frustration bei den anderen, meist jungen Mitgliedern. Ein Teufelskreis, dem man nur durch Impulse von außen, eine mutige Leitung und den Willen zum Aufbruch entkommen kann. Auch äußere, räumliche Veränderungen können einen inneren Aufbruch bewirken und in einer festgefahrenen Situation den Durchbruch bringen, so der Tenor unseres dortigen Workshops. Im Radsport bringt manchmal auch erst ein Strategiewechsel den angestrebten Sieg.

3. Etappe: Clever Ressourcen investieren – finanzielle Freiheit ernten

Eine größere Stadt in Hessen: Auch hier besuchten wir eine Gemeinde mit einer langen Tradition. Doch sie war äußerst kreativ, was die Nutzung ihres Grundstücks angeht. Das wollte ich mir anschauen. Mit bescheidenen finanziellen Mitteln gelang es ihr, Wohnraum direkt in der Nachbarschaft der Gemeinde zu schaffen. Auch zusätzliche Gemeinderäume konnten in diesem Gebäude untergebracht werden. Nun ist sie durch die Mieteinnahmen in der Lage, den Großteil des Gebäudes zu refinanzieren.

Wir waren beeindruckt: Mutige Menschen hatten hier ein Neubauprojekt mit Schwerpunkt Wohnnutzung gestartet und die für die Kinder- und Jugendarbeit dringend benötigten Gemeinderäume dazu geschenkt bekommen. Hut ab vor dem Glauben der Gemeindeleitung und der sie unterstützenden Menschen, die unternehmerisch denken. Eine große Vision ist das eine, aber es geht auch darum, klug mit dem Vorhandenen zu wuchern. In diesem Fall ein Grundstück. Im nächsten Schritt werden sie dank der Mieteinnahmen ihr bestehendes Gemeindezentrum umbauen, erneuern und neu ausrichten können.

4. Etappe: Eine Gemeinde braucht ein Zuhause, einen guten Standort und ein „Gesicht“

Eine hessische Kleinstadt: Die angemieteten Versammlungsräume waren durch einen Elektronikschaden abgebrannt. Zwar war niemand zu Schaden gekommen, doch die Kirche hatte ihre Heimat verloren. Dass die Mitglieder sich vorübergehend woanders treffen können ist nur ein kleiner Trost, denn ein solches Nomadendasein ist anstrengend.

Die abgebrannten Räumlichkeiten hatten zudem einen recht zentralen Standort. Ideal, um neue Menschen zu erreichen. Aber es ist nicht leicht, eine ebenbürtige Innenstadt-Lage zu finden. Als wir uns gemeinsam mit Gemeindeverantwortlichen ein alternatives Objekt anschauten, bestätigte sich für uns mal wieder, wie wichtig das „Gesicht“ einer Gemeinde in die Stadt hinein ist. Dieses hier war denkbar ungeeignet, da es über keinen Vorplatz verfügte und ungünstig zurückgesetzt hinter einer leblosen Durchfahrtstrasse lag.

Nicht immer das Rad neu erfinden

Auf unserer Tour de Gemeinde ist mir wieder folgendes bewusst geworden: Grundsätzlich ist es ganz normal, dass sich Gemeinden mit dem Status Quo arrangieren, auch was die Gebäulichkeiten angehen. Dann wird das Thema Veränderung ganz leicht ausgeblendet. Um aber attraktiver für junge und kirchenferne Menschen zu werden, sollten Gemeinden sie wieder mehr in den Fokus rücken.

Im Windschatten seines Vordermanns zu fahren bedeutet im Radsport eine Kraft-Ersparnis von gut 30 Prozent. Von anderen Gemeinden zu lernen kann manchmal vergleichsweise energiesparend und gewinnbringend sein und bei unserem geistlichen ‚Sprint Royal‘ die Etappensiege erleichtern. Unabhängig davon, dass der Siegeskranz auf jeden Fall schon auf der anderen Seite wartet.